Wenn die „Mutter“ reif ist
LANDWIRTSCHAFT Beim Erntekapitän Karsten Matthey im Cockpit zu Gast. Wie sich das Rapsernten mit einem riesigen Class 750 anfühlt und was es noch zu erfahren gibt. Von Rolf Strehler Aschersleben/MZ
Immer wenn ich die gewaltigen aufgewirbelten Wolken über den Feldern sehe, muss ich seufzend daran denken, wie sich der feine Erntestaub erbarmungslos auf meinem Auto festsetzen wird. Gleichzeitig wird mir bewusst, dass dort fleißige Menschen für unser tägliches Brot arbeiten. Das Wetter lässt sich eben nicht per Knopfdruck programmieren und der richtige Erntezeitpunkt darf nicht verpasst werden, egal welcher Wochentag oder welche Temperaturbedingungen gerade herrschen.
Schon als Kind, während der Sommerferien bei meinen Großeltern in Thüringen, hatte ich diese Erfahrung gemacht. Sie bewohnten ein kleines Haus auf einem Vier-Seiten-Hof. Unter einem riesigen Scheunendach standen zahlreiche rostige Landwirtschaftsgeräte. Sie wirkten auf mich wie furchterregende Maschinenmonster, was mich allerdings nicht davon abhalten konnte, auf ihnen herum zu klettern. Irgendwann bekam ich die ersten Mähdrescher zu Gesicht. Ich war damals beeindruckt von diesen fahrenden Riesenmaschinen und wäre zu gern aufgestiegen und mitgefahren.
Mein alter Traum geht in Erfüllung: Der Landwirt Klaus Kilian ist sofort bereit, mir die Mitfahrt auf einem Mähdrescher „Claas 750 Trion – Cemos Automatic“ zu ermöglichen. Ich kündige an, dass ich über mein „Sightseeing-Adventure“ in der MZ berichten möchte. „Fahren Sie auch bei diesen extremen Temperaturen?“, frage ich naiv. Die Erntezeit neige sich dem Ende entgegen, weshalb man auf Außentemperaturen von 40 Grad zur Mittagszeit keine Rücksicht nehmen könne, erklärt er mir. Im Übrigen bräuchte ich mir keine Sorgen zu machen, denn mich würde eine vollklimatisierte Glaskanzel mit Panoramarundblick erwarten.
Grandioser Rundumblick
Dann ist es endlich soweit. Ich fahre nach Strummendorf und sehe schon von weitem den Mähdrescher in Aktion. Die dominierenden Farben sind freundlich, hellgrün, weiß und rot. Nichts erinnert mehr an die armeegrünen Ungetüme aus meiner Kindheit. Nach wenigen Minuten steht die Maschine vor mir. Ich klettere eine senkrechte Leiter hoch. Zwei große Monitore und große Panoramafenster erinnern mich an das Cockpit eines Hubschraubers. Das Klima in der Kabine ist tatsächlich angenehm. Ich treffe den Erntekapitän, Karsten Matthey. Wir machen uns kurz bekannt, einigen uns auf das Duzen und schon geht die Fahrt weiter. Ich habe einen grandiosen Rundumblick und kann direkt von oben auf das Schneidwerk schauen. Die riesige Haspel durchfurcht die Halme der ausgereiften Rapspflanzen wie ein Kamm. Wie ein großer, gefräßiger Wels, der den Grund eines Gewässers nach Futter durchsucht und alles in sein breites Maul stopft, arbeitet das Schneidwerk mit den beiden Transportschnecken und befördert alles in den Bauch der Maschine.
Mich beeindruckt, wie gleichmäßig und ruhig das abläuft. Die technische Ausstattung ist hochmodern. Wie bei einem PKW dominiert Hightech-Ausstattung – fast alle wichtigen Funktionen an Bord, weshalb man kaum noch etwas selbst reparieren kann. Zum Glück sind Störungen eher selten, sagt Karsten. Ein plötzlich auftauchender, größerer Feldstein kann schon mal einen empfindlichen Maschinenschaden verursachen, erfahre ich. Ein Tier im Feld, wie etwa ein Rehkitz, kann in die Maschine geraten, weshalb er darauf stets ein wachsames Auge hat.
Zum ersten Mal gehört
Geduldig erklärt er mir alles über Landwirtschaft, Ackerbau, Rapspflanzen, EU-Normen, Vorschriften und über den Mähdrescher. Vieles höre ich zum ersten Mal. Ich spüre, er ist in seinem Element und liebt seinen Job. Früher ist er Lkw und alte Mähdrescher „Fortschritt“ E 512 und E 514 gefahren.
Für meine Bedenken, dass ich mir vermutlich nur Bruchteile der Informationen merken kann, hat er Verständnis. Ich erfahre, dass der Landwirtschaftsbetrieb Kilian sich auf Saatgutproduktion spezialisiert hat, also ein „Vermehrungsbetrieb“ ist und wir gerade „Vermehrungsraps“ ernten. Die Maschine wird das zukünftige Saatgut sofort von nahezu allen unerwünschten Bestandteilen und Verunreinigungen trennen. Um wieder neues Saatgut gewinnen zu können, sei es notwendig, die Feldreihen in „Mutter“ und „Vater“ zu trennen, erklärt er mir. Der „Vater“ wurde bereits abgehäckselt, weshalb wir heute die „Mutter“ ernten, fügt er noch an. Ich nicke verständnisvoll und verzichte besser auf weitere Fragen.
Der Mähdrescher wird mit den meisten Problemen und äußeren Bedingungen fertig, zum Beispiel kann man für liegende Halme einen Ährenheber einsetzen. Für verschiedenste Situationen gibt es optimierende Programme, wie zum Beispiel einen „Field-Scanner“ (GPS). Etwas zum Verbrauch: Zirka. 20 Liter pro Hektar beziehungsweise 48 Liter pro Stunde frisst der Riese, um seinen Job zu machen. Etwa 8 Liter werden für eine Tonne Erntegut benötigt.
Ernte ist gar nicht so schlecht
Irgendwann kommen wir auf die brennenden Themen der Gegenwart. Ich stelle einige Fragen. Mein Mähdrescherkapitän glaubt, dass unsere Landwirtschaft grundsätzlich in der Lage sein würde, uns weitestgehend selbst mit Lebensmitteln zu versorgen. Die diesjährige Ernte sei trotz der Trockenheit gar nicht so schlecht. Auf einer Skala von 1-10 sieht er den Ernteertrag bei 7-8. Ich hatte mit weniger gerechnet und bin als Laie beeindruckt, wie die Pflanzen den Wassermangel wegstecken konnten. Zu Stichworten wie Bürokratie, EU-Auflagen, Preis-Leistungs-Verhältnis, Milchpreise, Energiekrise, Schädlingsbekämpfung, Dünger tauschen wir uns aus.
Dann hält die Maschine an, um mit einer Geschwindigkeit von 130 Liter pro Sekunde den vollen Korntank mittels Abtankschnecke/-rohr, in den bereitstehenden Überladewagen, ein Transportanhänger, zu entleeren. Karsten erklärt mir, dass er noch etwa zwei Stunden zu tun haben wird. Dann muss er das Schneidwerk von der Maschine trennen und auf einen speziellen Transportwagen verladen, bevor er den Mähdrescher in den Unterstand fahren wird. Voller Respekt für die Arbeit der Landwirte verlasse ich nach 90 Minuten meinen Sitz in der Panoramakabine.
Karsten Matthey hat mir einen hochinteressanten Einblick in die Welt der Landwirtschaft gewährt. Ich bin Landwirt Klaus Kilian für die freundliche Unterstützung dieses Beitrages dankbar und bedanke mich bei Landwirt Torsten Graßhoff für die Vermittlung.